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Der Berg und sein Dorf – der Ötscher und Lackenhof (Teil 1)

 

Gipfelkreuz auf dem Ötscher (1.893 m)

So könnte es gewesen sein – Genaueres wissen wir nicht. Immerhin liegt das Geschehen  schon über 400 Jahre zurück, und es gibt nur spärliche Aufzeichnungen darüber.

Es war im 16. Jahrhundert, am 22.August 1574 stieg eine Gruppe Wissenschaftler vom heutigen Lackenhof in Richtung Ötschergipfel auf, sie nannten den Berg damals „Etscher“. Der Anstoß zu dieser Besteigung kam von Carolus Clusius, einem niederländischen Botaniker, der im Dienste des Römisch Deutschen Kaisers und Erzherzogs von Österreich Maximilian II. stand. Der katholische Kaiser war ein toleranter Mann, er fand nichts daran, den protestantischen Clusius mit der Erforschung der Alpenflora zu betrauen. Ganz Europa war zu dieser Zeit im Umbruch: Das Mittelalter war gerade zu Ende gegangen, die Neuzeit war 1492 mit der neuerlichen Entdeckung Amerikas durch Kolumbus angebrochen, Martin Luther hatte 1517 mit seinem Thesenanschlag die Reformation eingeläutet, die Jesuiten hatten für die römische Kirche die Gegenreformation gestartet, Nikolaus Kopernikus wagte zu behaupten, dass die Sonne und nicht die Erde Mittelpunkt unseres Sonnensystems ist – und der 30-jährige Krieg, der ²/der Bevölkerung Deutschlands auslöschte, stand noch bevor. Diesen Krieg hätte es möglicherweise mit einem Kaiser Maximilian II. nicht gegeben.

Und der niederländische Botaniker erreichte an diesem Tag tatsächlich den Gipfel des Ötschers, 1.893 Meter hoch. Ob er der Erste war, weiß man nicht – es ist jedenfalls die erste dokumentierte Ersteigung. Wahrscheinlich ist auch, dass der Aufstieg über Lackenhof erfolgte, denn es ist die einfachste Route. Hier gab es auch schon Unterkünfte und Verpflegungsmöglichkeiten. Schon im 15. Jahrhundert gründeten die Kartäuser aus Gaming einen Meierhof mit einem Fischteich, sie nannten die Ansiedlung den „Hof an der Lacke“.

Der Ötscherberg  wurde schon viel früher erwähnt. Im Kloster Mondsee wurden  Unterlagen gefunden, die aus der Periode Anfang des Hochmittelalters stammen, um 1000, in diesen Schriften kommt der Name „Othzan“ vor. Die Bezeichnung stammt vom slawischen Wort „ocan“ ab, das soviel wie Vaterberg bedeutet.

Übrigens Carolus Clusius, der mit eigentlichen Namen Charles de l’Ècluse (1526 – 1609) hieß, war ein kreativer Geist, schon 1601 beschrieb er in seinem in Amsterdam erschienen Buch die Kartoffel, welche die Spanier im 16. Jahrhundert bei den Inkas in Südamerika kennengelernt hatten. Der Botaniker wurde leider 1576 von Rudolf II. (1552 – 1612), dem Nachfolger Maximilians II., wegen seines protestantischen Glaubens entlassen,  – und in Österreich gewann der Anbau der Kartoffel, des Brots der Armen,  erst etwa 200 Jahre später, im 18. Jahrhundert, unter  Maria Theresia (1717 – 1780) an Bedeutung.

 

 

Weitental am Fuß des Ötschers

 

 

Ein Ort, wo alle Straßen enden

Wer kennt Lackenhof? In Ostösterreich sicher eine Menge Menschen. Bei Weitental werden es schon weniger sein, das sind aber dann die Kenner.

 Zur Einführung: Wer zum Ötscher will muss einfach nach Lackenhof, besser noch nach Weitental.

Lackenhof ist eine Katastralgemeinde der Marktgemeinde Gaming und liegt in den Ybbstaler Alpen auf einer Höhe von 810 Metern. Die Rotte Weitental, so nennt man eine Wohnsiedlung in lockerer Anordnung, gehört zu Lackenhof und breitet sich in der Talmulde aus, die vom Dorf bis an den Bergabhang des Ötschers heranreicht – ab Weitental geht’s bergauf, hinauf zum Ötscherschutzhaus (1.418 m) und weiter zum Gipfel des Ötschers.

Apropos, es gibt nicht nur einen Ötschergipfel – es gibt vier. Den Großen Ötscher (1.893 m), wie man ihn auch nennt, weiter westlich den Kleinen Ötscher (1.552 m) und noch weiter im Westen den Schwarzen Ötscher (1.183 m). Der Vierte ist der Winterbacher Ötscher im  Naturpark  Ötscher-Tormäuer,  er liegt bei Puchenstuben und ist mit 1.090 Metern der niederste der Vier.

 

Auf dem Weg nach Lackenhof

Viele Wege führen in dieses einsame und stille Tal inmitten der Ybbstaler Alpen, im Süden Niederösterreichs, an der Landsgrenze zur Steiermark, gelegen: von Osten her über Mariazell, von Westen über Lunz, von Norden über Gaming oder Lilienfeld. Letztere ist die alpinste Route – und die interessanteste und abwechslungsreichte.

Da wird schon bei der Anreise dem Neuling offenkundig, da fährt man ins Gebirge. Und wer nach Lackenhof will braucht ein Straßenfahrzeug. Über drei Pässe führt uns die Anreise: Annaberg (976 m), Josefsberg (1.012 m) und Zeller Rain (1.121 m).

Holzhüttenboden, im Tal der Ois

Holzhüttenboden, im Tal der Ois

 

Auf der Westseite des Zeller Rains beginnt das Tal der Ois. Nach dem Ort Neuhaus wird das Tal etwas breiter und wirkt wie ein Garten. Die Familie Rothschild, die das gesamte Gebiet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erwarb, legte hier in Holzhüttenboden einen Park mit Teichen, Jagd-, Gäste- und Wohnhäusern an.

 

In Weitental

Von Lackenhof führt eine Straße weiter zur Talstation des Ötscherlifts, zu einem Parkplatz und einigen Hotels. Ab hier geht’s mit dem Auto nicht mehr weiter – wir sind in Weitental, umgeben von Wald und Bergen: im Osten das Große-Ötscher-Massiv, im Süden der Kleine Ötscher und im Westen der Schwarze Ötscher.

 In Langau-Maierhöfen zweigt die Straße ab nach Norden, nach Lackenhof. Vier Kilomter sind es noch bis dahin, und noch einen bis Weitental.

 

der Größbach Hof in Weitental

der Größbach Hof in Weitental

 

Gegenüber der Liftstation, etwas höher, auf einer leicht abfallenden großen Wiese, neben einem hohen hundertjährigen Lindenbaum, umgeben von Blumenbeeten, steht der Größbach-Hof. Die Fassade ist weißgetüncht, das Obergeschoß des hinteren Teils des Hauses ist mit Holzbrettern verkleidet, und die hölzernen ästhetisch gestaltetetn Sprossenfenster sind mit Blumenkästen geschmückt, aus denen eine Fülle roter Geranien herausquillt. Es ist ein Bauernhaus, der hintere Haustrakt ist einmal ein Rinderstall gewesen. Heute stehen da drinnen keine Tiere mehr, im Sommer weiden jedoch auf den Wiesen um das Haus herum noch eine Menge Kühe, da wird der Hof zur Alm.

Die Familie Teufel bewirtschaftet hier nicht nur ihren Wald, dafür ist in erster Linie der Bauer Johann Teufel zuständig, sondern vermietet auch Zimmer mit allem Drum und Dran – und die Gäste betreut Maria Teufel. Und das vollkommen: Frühstück in der Zirbenholzstube, wo in der kälteren Jahreszeit ein urgemütlicher Kachelofen wohlige Wärme ausstrahlt, und wenn nötig, organisiert sie nebenbei den Rücktransport der Wanderer, sollten die sich ein entfernteres Ziel für ihre Tour gewählt haben. Und als Ausgangsort für die Erkundung des ganzen Naturparks Ötscher-Tormäuer sind Lackenhof und Weitental bestens geeignet – mit der Hilfe Johann Teufels, der dann abends als Rückholchauffeur unterwegs ist.

Familie Teufel vom Größbach Hof

Familie Teufel vom Größbach Hof

 

Holzarbeit auf dem Größbach Hof

Holzarbeit auf dem Größbach Hof

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sagen um den Ötscher und seinen mystischen Höhlen

 

beim Ötscher, dem Vaterberg

beim Ötscher, dem Vaterberg

 

– Es war einmal ein Jahr gewesen, da hatte es den ganzen Sommer nicht geregnet. Das Gras auf den Wiesen wurde braun, und das Getreide vertrocknete auf den Feldern, ehe es reif wurde.

Der Bauer Veit stieg eines Tages zum Ötscher hinauf, um oben zu schauen, ob sich nicht doch Regenwolken ankündigten. Doch der Himmel war wolkenlos und strahlend blau.

Da hörte er plötzlich Hilferufe. „Wenn in den Bergen jemand in Not ist, muss ich helfen“, sagte sich Veit und stieg immer höher hinauf. Da saß ein altes Weiblein auf einem Felsbrocken, ein Bein war voll Blut. –….

Das ist der Anfang der Sage von der Wetterliese, die den Regen herbeizauberte, indem sie Steine in die geheimnisumwitterten Höhlen hineinwarf.

Diese Geschichte ist nur eine von vielen Sagen, die sich um den Ötscher ranken.

Und Höhlen existieren oben beim Gipfel tatsächlich.

Am Südabfall des Rauhen Kamms liegt das Geldloch, in dem die reiche Witwe Gula, die aus Mautern vor den Awaren flüchten musste, ihre Schätze gelagert hätte; sie selbst hätte daneben im Taubenloch gewohnt. Ihr Sohn wäre in der reinen Gebirgsluft zum Riesen Änother herangewachsen und dann ein mächtigen Beschützer des Ötschers geworden. Im Innern des Berges gäbe es einen riesigen See, mit blinden  Fischen, die tote Seelen sein sollen und auf ihre Erlösung warten würden. Unter den Fischen wäre einer auffallend groß, er hieße Pilatus: um die 2.000 Jahre würde der zum blinden Fisch gewordene damalige römische Statthalter von Judäa schon auf seine Erlösung warten. 

Es ist gut zu verstehen, dass um einen so dominanten Berg wie den Ötscher jede Menge Geschichten und Sagen entstehen. Viele sind schon uralt, früher nur mündlich von Generation zu Generation weitergegeben, sind sie später aufgeschrieben, doch meist auch dem Zeitgeist angepasst worden – jedenfalls sind sie ein wertvolles Zeugnis der Geschichte dieser Landschaft.

 

über den Rauhen Kamm auf den Ötscher

über den Rauhen Kamm auf den Ötscher

 

Über den Rauhen Kamm auf den Ötscher

Von Raneck zu den Bärenlacken

Die ehemalige Jägersiedlung Raneck ist ein Weiler von Lackenhof und über eine schmale Straße leicht erreichbar. Ab hier beginnt der Fußmarsch. In einer Stunde wandert man auf einer idyllischen Forststraße Richtung Osten zu den Bärenlacken. Der Name ist eine Reminiszenz an die Bären, die es im Ötschergebiet immer wieder gegeben hat.  Zwei Bankerln gibt es da noch, wer will kann sich noch einmal stärken, denn ab hier wird’s etwas anstrengender.

Auf steilem Pfad hinauf zum Grat                              

Durch Wald und Buschwerk windet sich der Steig den Berg hinauf. Die meiste Zeit ist man alleine unterwegs, man erlebt etwas, das in keinem Reiseführer steht: Die Wiederentdeckung der Muße, und das ständige Gefühl keine Zeit zu haben – heute fast ein Statussymbol – verflüchtigt sich.

 

Blick ins Erlauftal

Blick ins Erlauftal

 

Nach etwa einer Stunde lichtet sich der Wald im Osten, und man erblickt fast  800 Meter tiefer das Tal der Erlauf und die Ortschaft Trübenbach.

Eine Stunde  später, nach dem ersten Tiefblick hinunter ins Erlauftal, ist der Ostgrat des Ötschermassivs erreicht. Es ist hier noch kein schmaler ausgesetzter Grat, eher ein Bergrücken, trotzdem hat man schon einen imposanten Blick nach beiden Seiten des Bergkamms, der sich von Nordost über den Ötschergipfel bis zum Riffelsattel hinzieht.

Im Südosten kann man die Gemeindealpe mit der Warte sehn, auf der anderen Seite kann man bis zu den unzähligen grünen Hügeln der Oberösterreichischen Voralpen schauen.

Nach einer Viertelstunde zweigt ein Steig mit blauer Markierung nach Süden hinunter in die Ötschergräben ab. Das ist auch der Weg zu den beiden sagenumwobenen Ötscherhöhlen, dem Tauben- und Geldloch.

 

der Rauhe Kamm am Ötscher

der Rauhe Kamm am Ötscher

 

Nur fliegen ist schöner – auf dem Rauhen Kamm

Nun wird es ernst, der Rauhe Kamm zeigt seine Zähne. Ungefähr zwei Stunden lang durchsteigt man eine traumhafte Strecke – manchmal ein schottriger Steig, dann wieder felsig, da müssen dann schon die Hände zu Hilfe genommen werden, aber immer ein wunderbarer Blick, entweder nach Norden, wo an die 800 Meter tiefer die hellen Linien der Forstwege aus dem Dunkelgrün der Wälder herausleuchten oder nach Süden  in die Ötschergräben hinunter.

Dann eine letzte steile Strecke, und die Kasette mit dem Tourenbuch ist erreicht. Hier kann der Bergwanderer wieder seine Stöcke vom Rucksack nehmen, ab hier beginnt der bequeme Pfad, immer noch entlang des Grates, zum Ötschergipfel. Am Weg liegt der Taubenstein, eine Bergkuppe mit einer Höhe von 1.849 Metern.

 

am Ötscher, der Rauhe Kamm nach Nordosten

am Ötscher, der Rauhe Kamm nach Nordosten

 

Der Ötschergipfel

 Eine halbe Stunde nach dem Ausstieg aus der „Kletterroute“ erreicht man auf einem Wanderweg den Gipfel des Ötschers.  Auf 1.893 Metern steht das Gipfelkreuz.  Im Süden fällt der Ötscherkamm zuerst steil in das Wurzleitenkar ab, an das sich weiter unten die Sonnenseitehänge anschließen, die schließlich fast tausend Meter tiefer auf den

Talboden der Ötschergräben mit dem Ötscherbach treffen.  Auf der nördlichen Seite des Gipfels bewegen wir uns auf der flacheren Seite des Berges. Die sanft geneigten Bergmatten sind  oben grasig, weiter unten mit Buschwerk und Latschen  bewachsen und  ziehen sich bis zum Riffelsattel hin. Vom Gipfelkreuz aus überbickt man das gesamte Umland: im Nordosten die Türnitzer Alpen, die Gemeindealpe  (1.626 m) im Südosten und im Westen die Berge der Oberösterreichischen Voralpen und über 1.000 Meter tiefer Lackenhof.

 

am Rauhen Kamm zum Ötschergipfel

am Rauhen Kamm zum Ötschergipfel

 

 

Blick vom Ötscher hinunter nach Lackenhof

Blick vom Ötscher hinunter nach Lackenhof

 

 

 

 

 

 

 

Beim Ötscherhaus

Zum Ötscherhaus braucht man vom Gipfelkreuz etwa  1½ Stunden.

Die Bergtour von Raneck über den Rauhen Kamm ist ein durchaus anspruchsvolles Unternehmen. Von den Bärenlacken bis zum Ötschergipfel gilt es fast 1.000 Höhenmeter zu bewältigen, hinunter zum Ötscherhaus sind es beinahe 500 Meter Abstieg,  und man ist an die 7 Stunden unterwegs; von den Bärenlacken bis zum Ötschergipfel braucht der geruhsamere Geher etwa 4½ Stunden.

Beim Ötscherhaus hat man nun mehrere Möglichkeiten. Die erste ist: in der Hütte übernachten und am nächsten Tag in die Ötschergräben hinunterwandern. Die zweite über den Riffelboden hinunter nach Weitental absteigen, Dauer um die 1½ Stunden.

Wir entscheiden uns für den Sessellift nach Weitental, da landen wir direkt vor dem  Größbach-Hof.

 

der Ötscherbach im Hinteren Ötschergraben

der Ötscherbach im Hinteren Ötschergraben

 

Die Kraft des Wassers

Zwei Wasserläufe prägen die Umgebung des Ötschers, sie umschließen den Berg in einem weiten Bogen: beginnend mit dem Ötscherbach, der am Ostabhang des Kleinen Ötschers entspringt und sich durch den Hinteren und Vorderen Ötschergraben bis zum Lassingfall schlängelt. Hier mündet der Bach in die Erlauf, welche die Ötscherumrundung entlang der Hinteren Tormäuer nach Erlaufboden und Trübenbach fortsetzt. Nach den Vorderen Tormäuern verlässt die Erlauf den Naturpark Ötscher-Tormäuer.

 Der Hintere Ötschergraben fängt beim Schleierfall an und reicht bis zur Jausenstation Ötscherhias. Von hier erstreckt sich der Vordere Ötschergraben bis zum Lassingfall. Eine Wanderung durch die beiden Ötschergräben vom Schleierfall bis zum Lassingfall ist rund 6 Kilometer lang. Nimmt man noch die Hinteren Tormäuer entlang der Erlauf  bis Erlaufboden mit, kommen noch an die 5 Kilometer dazu.

Die beiden Gebirgsbäche, der Ötscherbach und die Erlauf modellierten nicht nur in Millionen von Jahren die faszinierenden Schluchten in das Ötschermassiv hinein, sondern sie liefern auch noch die Energie für den Betrieb der Mariazeller Bahn. Das besorgen zwei Wasserkraftwerke: die Kraftwerke Wienerbruck und Erlaufboden.

  

Die Ötschergräben – ein Erlebnis für die Sinne

Der Österreichische Alpenverein und die Österreichischen Wanderdörfer veranstalteten 2011 erstmals eine Tourenwahl, um Österreichs schönste Wandertour auszuzeichnen – überlegener Sieger: die Ötschergräben. Am 29.09.2011 wurde im Rahmen einer Wanderung durch die Ötschergräben die Siegerurkunde übergeben.

 

auf dem Riffelsattel (1.284 m)

auf dem Riffelsattel (1.284 m)

 

Von Weitental zum Schleierfall

Um zu den Ötschergräben zu komen, muss man zuerst einmal zufußgehen. Da kann man  nicht mit dem Auto hinfahren, keine Straße führt dorthin. Also ein stilles Paradies? Paradies ja, aber nicht immer still. An Wander-Traumtagen begegnen einem schon eine Menge Leute – doch das mindert in keiner Weise die Begeisterung für die Tour in der schmalen, tiefen Schlucht des Ötscherbachs.

Es ist halb 9 Uhr und ein strahlender wolkenloser Herbstmorgen. Wir müssen zum Riffelsattel hinauf,  1.284 Meter hoch. Das sind fast 500 Höhenmeter. Von Weitental geht’s über einen steilen Weg über den Riffelboden zum Sattel, nach etwas über einer Stunde ein Wegweiser: zu den Ötschergräben.

Vom Riffelsattel führt ein schmaler Steig hinunter in die Hinteren Ötschergraben. Die Laubbäume im Mischwald, durch den wir absteigen, schillern schon in leuchtenden Farben, rot und gelb mit noch grünen Blättern dazwischen. Sonnenstrahlen glitzern durch das Blätterdach der Baumkronen und zeichnen strahlende Lichtbahnen durch den Nebeldunst, den auch die zunehmende Wärme noch nicht verdrängen konnte. Der Waldboden und der Weg sind voll von bunten Blättern, sodass alle Schrittgeräusche gedämpft werden und nur die Laute der Natur zu vernehmen sind: Vogelgezwitscher, manchmal das Plätschern eines Bächleins.

Dann ein Hinweisschild: zum Schleierfall. Wieder geht es auf einem engen Steig durch den bunten Herbstwald tiefer hinab. Und dann, nach einer zweistündigen Wanderung ab Riffelsattel sind wir unten: beim Schleierfall, am Beginn des Hinteren Ötschergrabens. Über mehrere Stufen fällt das Wasser über die hohe, rötlich gefärbte Felswand herab.   Sprühregen schwebt wie leichter Nebel über der Wand, und die Wassertropfen funkeln wie Kristalle im Sonnelicht.  – Das sind sie also, die Ötschergräben.

 

im Hinteren Ötschergraben

im Hinteren Ötschergraben

 

Durch den Hinteren Ötschergraben

 Es ist noch immer ein schmaler Pfad, der uns nach dem Schleierfall unter den bunten herbstlichen Bäume hindurchführt. Die Schlucht, die der Ötscherbach tief in den Kalkstein hineingefräst hat, wird enger, die Felswände zu beiden Seiten des Bachs rücken näher zusammen und scheinen immer steiler und höher zu werden.

 Unser Weg leitet uns entlang des Ötscherbachs weiter hinein in die Klamm. Der Steig schmiegt sich an der linken Seite des Gebirgsbaches an die Felswand, dann liegen wieder Holzstege über Schotterhalden, manchmal liegt das Wasser tief unten, sodass kein Ton zu dem Wanderer heraufdringt, dann wieder liegt der Pfad nahe beim Wasserauf. Die Sonne hat die Talsohle erreicht, ihr Licht gestaltet an den Steinen im Bachbeet ein Farbenspiel in Gelb und Rot, eingehüllt von glasklarem, blau bis grün glänzendem, Bergwasser des Ötscherbachs. Die weiße Gischt, die beim Anprall des rasch dahinströmenden Wassers auf die zahlreichen Felsblöcke aufschäumt, blinkt im Sonnenlicht wie tausende winzige Bergkristalle.

Wir wandern auf dem reizvollen Steig dahin, meist in der Sonne, dann wieder unter schattigen Baumgruppen, wo das herbstliche Farbenspiel der Blätter und die Färbung der Steine im Wasser einen Wettbewerb um die Krone der großartigsten Naturmalereien austragen.

Nach 1½ Stunden ab Schleierfall ist eine kurze Rast angesagt. Wir sind wieder an eine Stelle gekommen, wo wir eine Weile stehenbleiben: am Mirafall. Auf der Sonnenseite, südöstlich vom Rauhen Kamm sprudelt der Mirabach aus dem Boden heraus und fließt dann vor seinem Zusammenfluss mit dem Ötscherbach an einer Wand hinunter in die Klamm. Spektakulärer sind sie sicher, all die hohen und höchsten Wasserfälle der Erde, aber das Gebirgsbächlein, dessen Wasser gemählich, gleich einem weißen Schleier, an der Felswand herabgleitet, kann uns dafür viel mehr über die Bedürfnisse und Geheimnisse unserer Natur erzählen – beispielsweise von ihrem langen Atem für Beständigkeit:

„Wir müssen von Zeit zu Zeit eine Rast einlegen und warten, bis unsere Seelen uns wieder eingeholt haben.“

(indianisches Sprichwort)

der Ötscherbach

der Ötscherbach

Auf dem Weiterweg tauchen immer wieder nach Felsvorsprüngen, um die der Steig herumführt, überraschende Bilder auf: absonderlich geformte Felsspitze hoch über dem Bach oder knorrige Bäume, die aus dem Stein herauszuwachsen scheinen.

 Nach einer halben Stunde ist die Jausenstation Ötscherhias erreicht – und das Ende des Hinteren Ötschergrabens. Auf einem Holzsteg überqueren wir den Ötscherbach, und hier sollten wir einkehren. Wie ein Schwalbennest klebt die Gastwirtschaft an der Schattenseite des Ötschergrabens. Seit 1937 werden hier Getränke und einfache, aber deftige Speisen verkauft. Die Wirtschaft ist zu einem Bestandteil des Naturparks geworden, und woher immer der Wanderer kommt, bis hierher hat er schon einige Stunden Gehzeit hinter sich gebracht – also Zeit für eine Einkehr beim Ötscherhias.

Jausenstation Ötscherhias in den Ötschergräben

Jausenstation Ötscherhias in den Ötschergräben

Über den Erlaufstausee nach   Mitterbach am Erlaufsee

 Auf dem ersten Teil des Weges steigt der Pfad steil an, bis zum Forsthaus  Hagen. Dann geht’s auf Forststraßen durch Wald entlang des Erlaufstausees, dann über Wiesen mit land- und forstwirtschaftlich genutzten Gebäuden.

Nach etwas über zwei Stunden erreichen wir Mitterbach am Erlaufsee. Und bei der Talstation des Lifts auf die Gemeindealpe treffen wir Hans Teufel, in einer halben Stunde sind wir wieder zuhause – in Weitental, im Größbach-Hof.

 

Was frag ich nach den Menschen

Und nach der lauten Stadt,

Wenn mich die Bergwaldwildnis,

Die weiße Stille hat.

 

 ( erste  Strophe  „B e r g w a  l d w i l d n i s“  von Hermann LÖNS  [1866 – 1914] )

 

 

 

Franz Haslinger

Lackenhof, im Oktober 2012

 

copyright©haslinger.franz@yahoo.de

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Über den Autor

Franz Haslinger

Fotografieren heißt: Das Einzigartige eines Augenblicks im Bild festhalten, so dass dieser Moment das Allgemeingültige einschließt; dazu muss der Fotograf weniger das was er sieht fotografieren, sondern das, was er fühlt, und dazu muss er mehr ein Poet als ein Grafiker sein.

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