Waldland und die Entdeckung der Stille
Es ist der nordwestliche Teil Niederösterreichs, des größten Bundeslands Österreichs’, begrenzt von Tschechien im Norden und Nordwesten, von Oberösterreich im Westen, im Süden von der Donau und im Osten vom Manhartsberg – deswegen nennt man es auch oft das Viertel ober dem Manhartsberg. Mit einer Fläche von ungefähr 4.600 Quadratkilometern nimmt es etwa ein Viertel der Fläche Niederösterreichs ein, die Hälfte davon ist mit Wald bedeckt, jedoch nur 15% der Menschen dieses Bundeslands leben hier: das Waldviertel.
Von dieser Landschaft fasziniert zu sein ist fast so leicht, wie sich für einen weiten, weißen Palmenstrand auf Hawaii zu begeistern. Nur etwas anders: Es ist an einem Freitag um acht Uhr morgens, es ist nebelig und bewölkt, wie das Wetter Ende Oktober im Waldviertel eben ist. Heute ist Abfischen am Brabergteich in der Langau, nahe bei Litschau. Auf dem Damm, der das Wasser des Teiches aufstaut, glimmt ein kurzer Baumstamm. Einige Männer stehen um ihn herum und wärmen sich an dem schwach brennenden Feuer die Hände. Der Teich ist schon fast ganz ausgeronnen, nur in der Fischgrube steht noch Wasser, es scheint zu kochen, es sind die vielen Fische, die sich dort zusammendrängen. Und in diesem brodelnden Wasser stehen Fischer, angetan mit Gummianzügen, und holen die Fische mit Netzen heraus.
Eine Landschaft, aus Granit gemeiselt
Es ist ein hügeliges Land, Äcker und Wiesen haben im Laufe der Zeit den Wald etwas zurückgedrängt, aber noch immer prägt das Holz die Wirtschaft der Region. Es herrscht infolge der Höhenlage, durchschnittlich um die 400 Meter, ein rauhes Klima. Geologisch ist es ein Hochplateau aus Granit und Gneis. Die europäische Hauptwasserscheide durchzieht den nordwestlichen Teil des Waldviertels: Die Lausitz fließt bei Gmünd in die Moldau, diese wiederum in die Elbe, die dann in die Nordsee mündet. Die Wasser der anderen wichtigen Flüsse des Waldviertels, des Kamps und der Thaya, strömen ins Schwarze Meer. Der Kamp mündet in die Donau, die Thaya macht den Umweg über die March, die dann bei Bratislava in die Donau fließt.
Litschau, die nördlichste Stadt Österreichs
Wenn man von Wien aus mit dem Auto nach Litschau fährt, dann zweigt nach Göpfritz die Straße nach Waidhofen an der Thaya ab. Hier beginnt das „richtige“ Waldviertel: eine hügelige Landschaft, mit Wiesen, Feldern und dazwischen kleinere und ausgedehntere Gruppen von Bäumen. Ab Pfaffenschlag rückt der Wald immmer näher an die Straße heran. So als soll der Ankommende langsam auf das „tiefe“ Waldviertel, mit seinen ausgedehnten Wäldern, vorbereitet werden. Zwischen Pfaffenschlag und Eisgarn führt die Straße durch den „Räuberwald“, die hohen Bäume rücken hier schon auf beiden Seiten bis an die Straße heran.
Von Eisgarn sind es nur noch wenige Kilometer bis Litschau, der nördlichsten Stadt Österreichs.
Der Ort liegt kapp 600 Meter hoch und hat an die 1.400 Einwohner. Dem Besucher, der das erste Mal nach Litschau kommt, werden drei Sehenswürdigkeiten ins Auge fallen: der große, langgestreckte Stadtplatz, das Schloß und der Herrensee, der früher Herrenteich geheißen hat; was vom technischen Standpunkt durchaus richtig ist, da es sich um ein künstlich angelegtes Gewässer handelt, dessen Wasser durch einen Damm aufgestaut wird. Für viele Einheimische ist er immer noch der Herrenteich.
Die erste urkundliche Erwähnung als Stadt geht auf das Jahr 1386 zurück. 1986 veranstaltete die Stadt eine eindrucksvolle 600-Jahrfeier mit Musik und Festzügen. Die Siedlung geht auf eine Gründung der Grafen von Hirschberg zurück, die an der wichtigen Handelsstraße nach Böhmen eine Grenzbefestigung errichteten. Litschau ist in einem von vielen Kriegen und Kämpfen heimgesuchten Land immer Grenzstadt gewesen. 1431 plünderten die Hussiten die Ansiedlung, im 30-jährigem Krieg gehörte Litschau zum böhmischen Königreich und 1645 versuchten die Schweden vergeblich die damals gut befestigte Stadt einzunehmen, 1809 waren französische, 1866 preußische und 1945 russische Truppen hier stationiert.
Der Stadtplatz wird von der Pfarrkirche St. Michael dominiert. Auf deren Platz stand ursprünglich ein romanischer Bau aus dem 13. Jahrhundert, der dann im 14. und 15. Jahrhundert zu einer gotischen Hallenkirche mit dem vorgestellten Westturm umgebaut wurde, so wie wir die Kirche heute sehen.
Der Platz hat eine langgestreckte, rechteckige Form, mit der Kirche in der Mitte. Von hier aus kann man hinunterschauen auf das Westende des Stadtplatzes, es liegt wesentlich tiefer als die Kirche, und dort steht ein liebevoll renoviertes altes Haus mit dem gemütlichen Gasthaus Kaufmann.
Litschau ist eine typische Waldviertler Ortschaft, sie zeigt auf der einen Seite kleinstädtischen Charakter, es gibt hier Geschäfte, Gast- und Kaffeehäuser, einen wöchentlichen Bauernmarkt, auf der anderen Seite ist man nach wenigen Schritten in der einsamsten Waldviertler Landschaft. Vom Stadtplatz aus ist das südliche Ufer des Herrensees in einigen Minuten zu erreichen, und wenn man noch einige hundert Meter am Ufer entlang geht, ist man in einer zauberhaften, stillen Landschaft angelangt. Eine Fußwanderung rund um den See dauert ungefähr eineinhalb Stunden und zeigt uns schon, zumindest andeutungsweise, den Mythos der Waldviertler Landschaft.
Und nicht zu vergessen: Litschau ist der Geburtsort von Kaspar Schrammel (1811 – 1896), der hier das später weltbekannte Schrammelquartett gründete, in dem er und seine beiden Söhne Johann und Josef spielten. Die „Schrammeln“ sind zum Synonym der Wiener Heurigenmusik geworden.
Wiesen und Äcker, Wald und Steine – und unzählige Teiche
Willst du aber das Waldviertel näher erleben und kennenlernen, dann musst du in die kleinen Dörfer hinausgehen, zu den Fischteichen, zu den Wiesen und Feldern, zu den Granitsteinen, und du musst die Wälder entdecken. Am besten zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Viele Dörfer haben in ihrem Namen die Silbe „schlag“, das ist ein Wort aus dem Mittelhochdeutschen und heißt: Fällung. Als Ortsname oder Teil des Namens bedeutet sie, dass der Platz für die Ansiedlung ursprünglich bewaldet war und erst gerodet werden musste, bevor die ersten Hütten gebaut werden konnten.
Doch das Waldviertel ist nicht nur ein Land des Waldes und der Wackelsteine, sondern auch ein Land mit unzähligen Teichen. Gerade um Litschau herum gibt es besonders viele. Über tausend solcher Fischteiche findet man im Waldviertel, und in einem Jahr werden an die fünfhundert Tonnen Fische verkauft. Bis zu vier Jahre dauert es bis ein Karpfen ein Gewicht von etwa zweieinhalb Kilo erreicht hat; dank des langsamen Wachsens ist das Fleisch besonders fest und geschmackvoll.
Abfischen der Teiche – manchmal wie ein kleines Volksfest
Die meisten Fischteiche werden im Herbst abgefischt. Es ist dann noch genügend Zeit um die Spitzenqualität der Waldviertler Karpfen für den Weihnachtstisch vorzubereiten. Sie werden in Hälteranlagen mit fließendem Wasser gesetzt, damit sie Fett abbauen und das Fleisch seinen manchmal etwas lehmigen Geschmack verliert.
Das Abfischen eines Teiches ist oft ein kleines Volksfest, es sind nicht nur Freunde und Verwandte des Inhabers dabei, sondern immer öfter auch Gäste, die extra deswegen für ein paar Tage ins Waldviertel kommen.
Je nach Größe des Teiches dauert das Ablassen des Teiches Stunden bis einige Tage. Rund um das Ablaufwerk ist der Teich etwas tiefer, man nennt diesen Teil die Fischgrube, hier verbleibt genügend Wasser, damit die Fische nach dem Ablassen des Wassers bis zum Abfischen überleben können.
Das Abfischen beginnt früh am Morgen. Die Fischer sind mit wasserdichten Gummianzügen bekleidet, stehen dann stundenlang oft bis zur Hüfte im kalten Wasser und holen die Fische mit Netzen aus der Fischgrube. Am Ufer wird der Fang sortiert, es sind zwar hauptsächlich Karpfen, aber auch Zander, Schleien, Hechte, Welse und Aale zappeln im Netz. Männer schleppen die Fische dann in großen Eimern die Böschung hinauf und schütten sie in die Bottiche, die auf den Ladeflächen der Autos schon für den Abtransport vorbereitet sind.
Die Hechte werden separiert und in einem anderen Teich wieder ausgesetzt, sie sind meistens noch zu klein, um als Speisefisch verwendet werden zu können. Die Aale sind ein besonderer Leckerbissen und finden ihre Liebhaber. Welse und Zander werden gewöhlich in Anglergewässern wieder freigelassen, damit sie noch wachsen und irgendeinmal ein Anglerherz jubeln lassen.
Es sind so an die zwanzig Mann an der Arbeit, und doch dauert es einige Stunden bis das Gros der Fische an Land gebracht ist. Zuletzt zieht einer der Helfer die letzten Staubretter aus der Ablaufschleuse heraus, damit das Wasser ganz ablaufen kann. Da zappeln noch einige Fische im Schlamm, die es noch einzusammeln gilt. Dann geht der Bewirtschafter des Teiches nocheinmal den Damm entlang und schaut, ob noch irgendwo ein Fisch im Match steckt und gibt dann das Ende des Abfischens bekannt. Das gesamte Gerät, die Netze, Bottiche und Kübeln müssen noch gewaschen werden, und dann können sich endlich alle ihre kalten Hände an dem immer noch brennenden Baumstamm wärmen.
Nach der Arbeit wird von den „Alten Zeiten“ erzählt
Am Ende des Dammes steht ein ausrangierter Kleinbus, in dem ein Ofen installiert ist, der schon seit längerer Zeit angeheizt ist, und auf dem ein großer Topf mit heißem Wasser und Würsten steht. Einer sitzt drinnen im Auto und teilt die Würste aus, mit Brot und Senf, dazu ein Bier. Und dann stehen sie alle im Kreis um den brennenden Baumstamm herum, lassen sich die hart verdiente Wurst schmecken, und jeder weiß eine kleine Anekdote über Fischen und Teiche, über das Holzfällen, wie es früher einmal war, als es noch nicht die riesigen Holzbearbeitungs-Maschinen gab. Es sind auch Jüngere dabei, die den Älteren ein wenig ungläubig zuhören, wenn sie von der schweren Arbeit damals im Wald erzählen. Aber, ob Alt oder Jung beim Abfischen wollen sie das nächste Mal auch wieder dabei sein. Aus Freundschaft, und weil es noch immer Brauch ist, dem Anderen zu helfen; die Wurst mit Senf und Brot, ein Bier und einen Schnaps zum Aufwärmen, das ist für sie Lohn genug, und dazu gehört das vielleicht Wichtigste: die Plauderei in der Runde, um den brennenden Baumstamm herum.
Nach und nach verabschieden sich die Männer, steigen in ihre Autos und fahren weg. Der eine oder andere hat noch ein paar Fische für den Weihnachtstisch mitbekommen.
Nun heißt es dem Zauber der Landschaft Lebewohl sagen. Die Fahrt auf dem Waldweg zurück nach Litschau ist eine Reise durch die Farbenwelt des Herbstes, und dabei träumt man möglicherweise, die Zeit nicht vorüberhuschen zu lassen, sondern diese Momente festhalten zu können – diese stillen Stunden im Waldviertel.
Franz Haslinger, im Jänner 2011
Das schreit ja geradezu nach einem Besuch. Scheint auf jeden Fall mal was anderes zu sein 🙂